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Sektorkopplung

Von Brandenburg nach Bolivien

Text: Monika Rößiger

PV-Module glitzern in der Sonne und Windräder drehen sich in einer leichten Brise, als etwa Dutzend Vorstandsvorsitzende und Geschäftsführer von Energieversorgungsunternehmen aus der Schweiz am Enertrag-Verbundkraftwerk in der Uckermark ankommen. Sie wollen von den Erfahrungen aus Brandenburg lernen. Das Verbundkraftwerk liegt in einer reizvollen Feld-, Wald- und Seenlandschaft in Brandenburg, läuft zu hundert Prozent mit erneuerbaren Energien und hat eine Nennleistung von 2,6 Gigawatt.

Verteilt über eine Fläche von 40 mal 40 Kilometern generieren Solar- und Windenergieanlagen Strom, der entweder direkt genutzt, gespeichert oder umgewandelt wird. Kleinere, eigene Umspannwerke sammeln den selbst erzeugten Strom ein, bevor er an das zentrale Umspannwerk Bertikow und ins öffentliche Netz geht. Wird mehr Grünstrom erzeugt als verbraucht, fließt er in die Elektrolyse, um Wasserstoff zu erzeugen oder in einen Windwärmespeicher, um bei Bedarf nahegelegene Haushalte mit Wärme zu versorgen. Auch Batterie- und Gasspeicher können überschüssigen Strom beziehungsweise daraus erzeugten Wasserstoff aufnehmen. Wie der Name „Verbundkraftwerk“ bereits andeutet, sind alle 1.100 Anlagen miteinander vernetzt: über eigene Strom-, Gas- und Wasserstoffleitungen. Sie werden digital überwacht und aus der Leitwarte zentral gesteuert. Allein das interne Stromnetz umfasst 660 Kilometer.

Die Elektrolyse-Anlage gehört neben der Leitwarte zu den Hauptattraktionen der Besichtigungstour, die gut einen halben Tag dauert. Mit dem E-Auto geht es durch das Gebiet des dezentralen „Kraftwerks“, auf schmalen Landstraßen zwischen Raps- und Getreidefeldern, Rüben- und Kohläckern hindurch. Am Himmel kreisen Milane und Bussarde; manchmal sieht man einen Falken über einem Feld rütteln. In dieser idyllischen Landschaft befindet sich eine Gewerbehalle mit dem laut Enertrag ersten „Wasserstoff-Hybridkraftwerk der Welt“. Dabei handelt es sich um eine Kombination aus drei Windrädern, einem Elektrolyseur und einer Biogasanlage mit zwei Blockheizkraftwerken, die mit einem Gemisch aus Biogas und Wasserstoff betrieben werden können. Zum Hybridkraftwerk, das Teil des Verbundkraftwerks ist, gehören auch die drei großen, zigarrenförmigen H2-Röhrenspeicher vorm Eingang der Gewerbehalle.

Alkali-Elektrolyseur läuft seit 2011 Dann geht es in das Gebäude hinein, um den Alkali-Elektrolyseur direkt am Ort seiner Entstehung zu besichtigen. Die 560-kW-Anlage ist der besondere Stolz des Gas- und Wasserstoffleiters Nico Vollack – nicht nur, weil er von ihr praktisch jede Schraube kennt. „Als wir sie 2011 in Betrieb nahmen, war grüner Wasserstoff in der öffentlichen Debatte noch gar kein Thema“, berichtet er. „Wir haben den Elektrolyseur hier selbst zusammengebaut, er ist also ein Unikat.“ Damals war das ja alles Handarbeit und so dauerten Planung, Montage und Inbetriebnahme zweieinhalb Jahre. Vollack zeigt auf die mit Kalilauge gefüllten Schläuche und erklärt das Verfahren der Wasserspaltung anhand einer einzelnen Elektrolysezelle, die er zur Demonstration in der Hand hält: Ein Stahlrahmen mit Polymer-Membran. 70 solcher Zellen befinden sich im Wasserbehälter des Elektrolyseurs, an sie wird eine Spannung von 140 Volt Gleichstrom angelegt. „Bislang mussten wir noch keine der Membranen austauschen“, erläutert Vollack und klingt fast ein wenig verwundert. „Aber irgendwann wird das notwendig sein.“

Die Elektrolyse findet bei einer Temperatur von 70 bis 75 Grad statt. Bei Volllast produziert die Anlage rund 125 m3 Wasserstoff in der Stunde. Der Strom stammt aus drei nahegelegenen 2,3-MW-Windrädern, die ebenfalls 2011 in Betrieb gingen. Über Erdkabel sind sie mit dem Gleichrichterraum im Wasserstoffwerk verbunden. „Wenn die Windturbinen keinen Strom liefern, steht auch die Elektrolyse-Anlage still“, sagt Vollack.

Laut Enertrag wird die Elektrolyse netzdienlich betrieben. Wenn Strom nicht im Netz aufgenommen werden kann, geht er in die Wasserspaltung oder in eine Power-to-Heat-Anlage. Doch nicht immer lässt sich verhindern, dass Windräder abgeregelt werden müssen. Noch stehe dem die Regulatorik entgegen. Auch, wenn es das Ziel des Unternehmens sei, „auf keine Umdrehung zu verzichten“, müssen derzeit noch Windräder abgeschaltet werden, inbesondere an verbrauchsärmeren Wochenenden, falls zugleich viel Wind wehen sollte.

Über dem Wassertank des Elektrolyseurs befinden sich die Separatoren für Sauerstoff und Wasserstoff. Nach der Gasreinigung und Qualitätsprüfung gelangt der Wasserstoff in ein kleines Gasometer und dann in die Kompressoren zur Verdichtung. Bei einem Druck bis 40 bar wird er schließlich in den Röhrenspeichern vor der Halle zwischengelagert. Ihre Kapazität beträgt jeweils etwa 1,2 Megawattstunden; insgesamt ungefähr die Produktion einer Woche, erklärt Vollack.

Monika Rößiger

Vor der Halle mit dem Elektrolyseur erklärt Betriebsleiter Nico Vollack den Besuchern technische Details.

Große Nachfrage nach Wasserstoff Aus den Röhrenspeichern kann der Wasserstoff zur Rückverstromung in den Blockheizkraftwerken der Biogasanlage genutzt werden. Oder er wird mit Hilfe eines Hochdruckverdichters je nach Bedarf in Trailer oder Flaschenbündel abgefüllt und geht dann ganz unterschiedliche Wege. „Wir liefern jeden Tag Wasserstoff an die Heidekrautbahn,“ so Vollack. Weitere Abnehmer sind die sechs Brennstoffzellen-Busse einer regionalen Verkehrsgesellschaft, die Betreiber von BZ-Notstrom-Anlagen sowie eines brennstoffzellenbetriebenen Schiffs auf der Ostsee sowie die unternehmenseigene Wasserstofftankstelle im nahegelegenen Prenzlau.

Der Wasserstoff wird auch in die Erdgasleitung der Region eingespeist und Kunden bilanziell als grüner Wasserstoff angeboten; bis zwei Prozent sind derzeit gesetzlich zugelassen. In Zukunft soll diese Leitung komplett auf den klimaneutralen Energieträger umgestellt werden, als Teil des Wasserstoff-Kernnetzes für Deutschland. Für den ebenfalls im Prozess entstehenden Sauerstoff gibt es hier keinen Bedarf; er wird nach draußen abgelassen. „Wenn die Biogas-Anlage nicht wäre, könnten wir uns als Luftkurort bezeichnen“, witzelt Betriebsleiter Vollack. Denn die müffelt vernehmlich. Über mangelnde Nachfrage an Wasserstoff kann sich Enertrag nicht beklagen. Im Gegenteil: „Der Bedarf ist so gestiegen, dass wir ihn allein mit diesem Elektrolyseur nicht mehr bedienen können“, sagt Vollack. „Deshalb errichten wir weitere Anlagen.“

Für die großtechnische Herstellung von grünem Wasserstoff plant das Unternehmen den Aufbau von mehreren Elektrolyse-Standorten in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg mit einer Gesamtleistung von rund 185 Megawatt. Als sogenannter Elektrolysekorridor Ostdeutschland wird dieses Projekt von Bund und Ländern als wichtiges Vorhaben von gemeinsamem europäischen Interesse (IPCEI) gefördert. Jeder der Elektrolyseure soll jeweils eine Wasserstofftankstelle versorgen, die in der Nähe gebaut wird und auch in das künftige Wasserstoffkernnetz einspeisen.

Planbarer Ökostrom im Gigawatt-Maßstab Für den reibungslosen Ablauf aus Erzeugung, Verbrauch, Speicherung und Transport aller Anlagen und Energieprodukte sorgt die Leitwarte in Dauerthal. Die befindet sich in einem kreisrunden Gebäude, das sich mit seiner dunklen Holzfassade in die ländliche Umgebung einfügt. „Wir arbeiten hier mit rund 18 Leuten im Dreischichtbetrieb, also rund um die Uhr“, erklärt Andreas Grüning, Leiter der Fernüberwachung. „Im fünf- bis zehn Minuten-Takt laufen hier die Daten der über tausend Anlagen ein und werden im Hintergrund von unserer selbstentwickelten Powersystem-Software überprüft.“ Wenn irgendetwas aus der Routine ausschert, zum Beispiel eine Unterleistung auftritt oder ein EVU-Signal empfangen wird, steuern die Fernüberwacher manuell nach. Falls notwendig, schalten sie eine Windenergieanlage auch wegen eines Fledermausfluges ab.

„Durch Sektorkopplung – Strom aus Wind und Sonne, die Produktion von grünem Wasserstoff und Wärme – können wir planbare Leistung im Gigawattbereich bereitstellen“, fährt Grüning fort. „Dabei bieten wir alle wichtigen Systemfunktionen eines konventionellen Kraftwerks, von der Bereitstellung der Regelenergie bis hin zur Schwarzstartfähigkeit.“ Das Verbundkraftwerk sorgt auf diese Weise dafür, dass mehr erneuerbare Energie im Gesamtsystem genutzt werden kann und das Netz trotzdem stabil bleibt. Auch der Wind-Wärme-Speicher in Nechlin nimmt überschüssigen Windstrom auf und erhitzt damit über einen Heizstab Wasser. Das warme Wasser wird gespeichert und versorgt 35 Haushalte mit klimaneutraler Wärme.

Die Schweizer Gäste verlassen die Leitwarte und schauen sich am Stammsitz von Enertrag um. In dem historischen Gutsgebäude gegenüber der Leitwarte begann Ende der 90er Jahre die Firmengeschichte mit dem Bau von ein paar Windrädern. Aus dem Projektierer und Betreiber von Windenergieanlagen ist inzwischen ein Energieversorger mit mehr als 1.200 Mitarbeitern auf vier Kontinenten geworden. Das moderne Verwaltungsgebäude neben dem Gutshaus ist ebenso mit Solarmodulen ausgestattet wie die Leitwarte und ein ehemaliges Bauernhaus gegenüber, das heute als Firmenkantine dient. Dann fährt die Gruppe zur letzten Station unserer Besichtigungstour: Dem Batteriespeicher Cremzow. „Mit einer Kapazität von 34,8 MWh trägt er dazu bei, Schwankungen im Stromnetz auszugleichen“, erklärt Andreas Grüning. „Und er eignet sich gut zur Spitzenlastabdeckung.“ Außerdem stellt der Speicher Regelenergie und andere Systemdienstleistungen bereit. Durch seine Schwarzstart-Fähigkeit kann er im Falle eines Netzausfalls das Netz wieder aufbauen.

Dunkelflauten können durch den Einsatz des Batteriespeichers und Rückverstromung von grünem Wasserstoff abgefangen werden. Die eigenen Leitungen, die Wind- und Solarstrom innerhalb des Kraftwerkverbunds einsammeln, tragen laut Enertrag dazu bei, die künftig benötigten Kapazitäten im öffentlichen Netz zu verringern. Denn der Ausbau von Sammelnetzen zwischen den Energieanlagen sei „im Vergleich zum redundanten Ausbau des öffentlichen Netzes bis zu zehnmal kostengünstiger.“

Bolivien interessiert sich für das Konzept Die Erfahrungen, die Enertrag mit seinem Prototyp in der Uckermark seit 2011 sammelt, kommen auch anderen Regionen und Ländern zugute. Das „Enertrag Verbundkraftwerk“ – ein eingetragenes Markenzeichen – ist laut Unternehmen „global umsetzbar“. Oder eben Teile davon wie die eigene Software, die seit Frühjahr 2024 in Bolivien zur Fernüberwachung und -wartung von Windenergieanlagen eingesetzt wird. Im Frühjahr dieses Jahres besuchte eine Delegation der bolivianischen Regierung das Verbundkraftwerk samt Elektrolyseur in der Uckermark, weil sie etwas Vergleichbares in ihrem Land realisieren wollen. „Solche Verbundkraftwerke könnte man theoretisch überall bauen, wo die Kombination der notwendigen Technologien möglich ist,“ sagt auch Professor Detlef Schulz, Spezialist für elektrische Energiesysteme und Sprecher der Arbeitsgruppe „Wasserstoff für das norddeutsche Energiesystem“. „Darüber hinaus kann man bei weiter voneinander entfernten Erzeugungsanlagen und Speichern auch rein bilanzielle Verbundkraftwerke bilden, die innerhalb bestimmter räumlicher Bilanzgrenzen zu einem stabilen Netzbetrieb beitragen können.“ Dafür bedürfe es aber umfangreicher Praxis-Erfahrungen in allen Teilbereichen, insbesondere im Wasserstoffbereich, wie Enertrag sie bereits gesammelt habe. Für die Zukunft erwartet Schulz deshalb, dass solche Kraftwerksverbünde beziehungsweise Hybridkraftwerke den Betreibern größerer Anlagen vorbehalten bleiben, etwa an Standorten für die Produktion von Stahl, Chemie oder Zement.

Welche bedeutende Rolle grüner Wasserstoff inzwischen für das Portfolio von Enertrag spielt, zeigt sich anhand von ambitionierten Vorhaben im Gigawatt-Bereich, wie das Hyphen-Projekt in Namibia. Dort sollen in zwei Phasen jeweils 1,5 Gigawatt Elektrolyse-Leistung errichtet werden; zusammen mit den notwendigen Solaranlagen. Ziel ist es, den grünen Wasserstoff in Ammoniak umzuwandeln und weltweit zu verschiffen. In Uruguay und Deutschland plant das Unternehmen H2-Anlagen, um klimafreundliche Flugkraftstoffe herzustellen.

Als weiteres Geschäftsfeld sieht Enertrag die Defossilisierung der Schifffahrt und Hafenlogistik, weshalb der Konzern im Herbst vergangenen Jahres in Hamburg ein neuen Büro eröffnete (s. HZwei Nr. 1-2025). Nur einen Katzensprung von der Handelskammer und dem Rathaus der Hansestadt entfernt, bezog Enertrag die oberste Etage des historischen Laeisz­hofs, wo auch die Stiftung H2 Global und die F. Laeisz Gruppe residieren. Enertrag kooperiert bereits mit Laeisz im Bereich klimaneutrales Methanol und Ammoniak. Darüberhinaus bietet der Hamburger Hafen mit seiner Infrastruktur „ideale Voraussetzungen, um als Drehscheibe für den Import und Export von Wasserstoff sowie dessen Derivaten zu fungieren“, sagte Gunar Hering, Vorstandsvorsitzender von Enertrag, zur Büro-Eröffnung.

„Der Wasserstoffhochlauf ist in vollem Gange“, resümiert ein Sprecher des Unternehmens. „Jetzt braucht es von der Politik vor allem eins: Verlässlichkeit. Eine Abkehr von den Ausbauzielen bei erneuerbaren Energien oder Wasserstoff würde die gesamte Wertschöpfungskette gefährden.“ Entscheidend sei jetzt, Hemmnisse – zum Beispiel beim Marktdesign – zu beseitigen. Mehr Flexibilität im System würde schon eine kosteneffiziente Wasserstoffproduktion ermöglichen.

Monika Rößiger

Rechts am Behälter des Alkali-Elektrolyseurs sieht man die Schläuche mit der Lauge.

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