Eine starke Automobilindustrie, viel Energiebedarf, kaum Windenergie – die Ausgangslage in Baden-Württemberg unterscheidet sich deutlich von der in den Küstenländern. Mit einer starken Wasserstoff-Infrastruktur will das Bundesland seine Klimaziele erreichen, wie Verkehrsminister Winfried Hermann im Gespräch mit Hyfindr für die HZwei erklärt.
Interview: Björn Lüssow und Steven Oji
Hyfindr: Herr Minister, wie sehen Sie die Wasserstoffindustrie im Automobilland Baden-Württemberg positioniert?
Winfried Hermann: Die Nachfrage nach Wasserstoff ist groß – viele Unternehmen möchten diesen sauberen Energieträger nutzen. Gleichzeitig bremsen hohe Kosten, EU-Regularien und eine begrenzte Verfügbarkeit den Hochlauf. Im Verkehrssektor wird Wasserstoff eine Rolle für den Schwerlastverkehr auf der Langstrecke spielen, jedoch nicht beim Pkw-Verkehr, wo der Trend klar in Richtung batterielektrischer Antrieb geht. Baden‑Württemberg nimmt beim Thema Brennstoffzelle eine Spitzenposition in Europa ein – mit führenden Herstellern wie Bosch, EKPO und Cellcentric und starken Zulieferern wie ElringKlinger oder Mahle. Damit unsere Unternehmen wettbewerbsfähig bleiben, muss die Politik aktiv werden und Märkte schaffen.
„Die Politik muss aktiv werden und Märkte schaffen.“
Welche konkreten Impulse setzen Sie als Verkehrsminister?
Mein klares Ziel ist klimaneutrale Mobilität in Baden‑Württemberg – und aus Baden‑Württemberg für die Welt. Wasserstoff und Brennstoffzelle sind dafür unverzichtbar. Wir müssen jetzt konkrete Anwendungsfälle schaffen und die Brennstoffzelle auf die Straße bringen. Dazu fördern wir den Aufbau von Wasserstoff‑Korridoren, etwa zwischen Heilbronn und Rotterdam, wo Lkw mit Brennstoffzelle oder Wasserstoff‑Verbrenner auf der Langstrecke sicher fahren können. Dafür arbeite ich eng mit Partnerregionen, der Bundesregierung und der EU zusammen – denn Baden‑Württemberg kann die Wasserstoffmobilität aber nicht allein zum Erfolg führen.
Im Personenverkehr scheint das Rennen zwischen rein batterieelektrischen Fahrzeugen und Fahrzeugen mit Brennstoffzellen auf der Pkw-Seite zugunsten der batterieelektrischen Fahrzeuge entschieden zu sein. Teilen Sie diese Einschätzung?
Für den Pkw ist der Batterie-Antrieb heute unschlagbar: Sie wird immer günstiger und ermöglicht mit modernen Systemen auch Langstreckenfahrten. Chemische Energieträger wie Wasserstoff spielen im Pkw‑Bereich höchstens dort eine Rolle, wo Autarkie nötig ist – zum Beispiel im Katastrophenschutz oder in sicherheitskritischen Einsätzen. Diese Nischen sind wichtig, aber nicht die Haupttreiber für die Pkw‑Entwicklung.
Wie sieht es im Schwerlastverkehr aus?
Im Verteilerverkehr dominiert die Batterie, denn sie erfüllt alle Anforderungen auf der letzten Meile. Auch für die Langstrecke gibt es inzwischen batterieelektrische Lkw. Langfristig sehe ich aber das Potenzial für Brennstoffzellen mit Wasserstoff: Die kurzen Tankzeiten reduzieren Pausen, und die Brennstoffzelle entlastet das Ladenetz – besonders wichtig an stark befahrenen Autobahnen. In Regionen ohne flächendeckende Ladeinfrastruktur bleiben für klimafreundlichen Fernverkehr nur e-Fuels, also Wasserstoffderivate, sowie Wasserstoff zur direkten Verbrennung.
„Kurze Tankzeiten reduzieren Pausen, die Brennstoffzelle entlastet das Ladenetz“.
Ein kritischer Punkt für die Akzeptanz von Wasserstofffahrzeugen ist die Tankstelleninfrastruktur. Wie sieht es um die Wasserstofftankstellen in Baden-Württemberg aus?
In Baden‑Württemberg sind aktuell neun Wasserstofftankstellen in Betrieb, sechs davon können auch Nutzfahrzeuge wie Busse oder Lkw betanken, eine ist nicht öffentlich zugänglich. Sechs weitere Stationen befinden sich in Planung oder im Bau. Entscheidend für den Erfolg ist nicht allein die reine Anzahl, sondern eine durchdachte Routen- bzw. Netzplanung – zum Beispiel alle 50 Kilometer entlang wichtiger Korridore wie Heilbronn–Rotterdam, damit Lkw zuverlässig versorgt sind.
Die im Jahr 2024 in Kraft getretene Verordnung zum Aufbau der Infrastruktur für alternative Kraftstoffe (AFIR) soll den Ausbau der Infrastruktur beschleunigen. Welchen Einfluss hat diese Verordnung auf die Entwicklung der Wasserstoffinfrastruktur in Baden-Württemberg?
Die AFIR legt verbindliche EU‑Ziele für Wasserstofftankstellen fest: bis Ende 2030 muss eine Mindestanzahl öffentlich zugänglicher Stationen für Pkw und leichte sowie schwere Lkw in Städten und entlang des Kernnetzes bereitstehen. Sie schafft Planungssicherheit und technische Standards und unterstützt so den Hochlauf von H2‑Fahrzeugen. Für Baden‑Württemberg ist das ein wichtiger Rahmen, um die Infrastruktur bedarfsgerecht zu gestalten.
Was ist notwendig, um den Ausbau der Wasserstoffinfrastruktur und die breitere Einführung von Wasserstoffmobilität schneller voranzubringen? Wo sehen Sie dabei die Verantwortung der Politik, der Wirtschaft und auch des einzelnen Bürgers?
Wir brauchen vor allem bezahlbaren grünen Wasserstoff – derzeit fehlt die nötige Produktionskapazität. Erst große, verlässliche Abnehmer wie H2‑Ready‑Gaskraftwerke schaffen solide Geschäftsmodelle und investieren in Netze, Speicher und Hubs. Das bildet die Grundlage für Mobilitätsanwendungen.
Gefragt sind alle. Die Politik, vor allem die EU, muss Regulierungs‑ und Planungssicherheit schaffen und Infrastrukturprojekte sowie H2‑Kraftwerke unterstützen. Die Wirtschaft sollte Klimaschutz strategisch verankern und transparent darlegen, welche Investitionen nötig sind. Die Bürgerschaft kann regionale Projekte durch Akzeptanz von Wind‑ und Solaranlagen unterstützen. So sichern wir Versorgung, Klimaschutz und den Standort Baden‑Württemberg gemeinsam.
Viele große Ölkonzerne sind im Bereich der Wasserstoffproduktion und -infrastruktur noch zurückhaltend oder nur langsam aktiv. Können wir diese Konzerne nicht stärker in die Verantwortung nehmen, den Wandel zu alternativen Kraftstoffen zu beschleunigen?
Mineralölkonzerne investieren dort, wo es sich derzeit rechnet. Sie sollten mehr in die Zukunft investieren, denn das Ende des fossilen Zeitalters ist in Sicht. Wir brauchen ambitionierte Quoten für erneuerbare Kraftstoffe zum Beispiel im Luftverkehr und attraktive Anreize, zum Beispiel über die THG‑Quote, damit Investitionen in grüne Moleküle lohnend werden. Raffinerien und andere Anlagen der Konzerne sollten für grünen Wasserstoff nutzbar gemacht werden – so sparen wir Zeit, Kapital und Know‑how. Letztlich entscheidet ein wirksamer CO₂‑Preis über die Wirtschaftlichkeit von Alternativen.
Wir sehen immer wieder, dass Start-ups oft die treibende Kraft hinter Innovationen sind. Sollten wir diese nicht eher fördern als große Konzerne, die zwar Förderungen gerne mitnehmen, aber angesichts ihrer Milliarden-Gewinne möglicherweise nicht wirklich darauf angewiesen sind?
Fördermittel aus normalen Programmen dienen dem öffentlichen Interesse und werden in transparenten Vergabeverfahren vergeben – an diejenigen, die den Förderzweck am besten erfüllen. Start‑ups und etablierte Unternehmen konkurrieren hier gleichermaßen. So stellen wir sicher, dass das innovativste und geeignetste Projekt gefördert wird, unabhängig von der Unternehmensgröße.
Wie stehen die Bundesländer in Deutschland aus Ihrer Sicht im Wettbewerb zueinander, wenn es um die Entwicklung der Wasserstoffwirtschaft geht? Gibt es hier ähnliche Diskussionen wie bei der Anbindung von ICE-Bahnhöfen, etwa bei der Anbindung von Wasserstoff-Pipelines?
Die Fernleitungsnetze für Wasserstoff sind als Kernnetz gesetzlich definiert. Der Wettbewerb der Länder zeigt sich vor allem bei der regionalen Produktion: Küstennahe Großanlagen speisen ins Netz ein, im Süden entstehen kleinere Elektrolyseure in Kundennähe. Außerdem konkurrieren die Länder um Fachkräfte für H2‑Technologien. Baden‑Württemberg hat hier durch seine Forschungslandschaft und die fünf Wasserstoff‑Forschungszentren eine starke Position. Aber es fehlt uns die billige Windenergie. Deshalb ist die Durchleitung von Strom aus den nördlichen Windparks so wichtig.
„Uns fehlt die billige Windenergie. Deshalb ist die Durchleitung von Strom aus den nördlichen Windparken so wichtig.“
In China gibt es inzwischen Wasserstoff-Lkw, die preislich mit einer C-Klasse vergleichbar sind. Wird Ihnen da nicht Angst und Bange um den Automobilstandort Stuttgart und die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie?
Mit Cellcentric haben wir in Baden‑Württemberg einen Brennstoffzellen‑Hersteller auf Augenhöhe mit chinesischen Wettbewerbern. Zwar subventioniert China massiv, doch auf Dauer sind diese Preise für die Industrie nicht auskömmlich. Dennoch müssen wir unsere Unternehmen unterstützen, damit sie ihre Technologien im heimischen Markt einsetzen und weiterentwickeln können. Kurzfristige betriebswirtschaftliche Betrachtungen dürfen nicht das Potenzial der Brennstoffzelle auf dem Weltmarkt gefährden.
„China subventioniert massiv, doch auf Dauer sind diese Preise für die Industrie nicht auskömmlich“.
Im Kontext internationaler Entwicklungen und Wettbewerb: Halten Sie Zölle für eine geeignete Lösung, um die heimische Industrie zu schützen und den Wasserstoffhochlauf zu fördern?
Zölle schützen kurzfristig bestehende Industrien, verteuern aber Produkte und belasten Verbraucherinnen und Verbraucher. Beim Wasserstoff, der jetzt schon teuer ist, würde das den Hochlauf eher bremsen. Wir brauchen sowohl Importe als auch heimische Produktion für einen funktionierenden Markt. Protektionismus ist keine sinnvolle Lösung – stattdessen setzen wir auf starke europäische Zusammenarbeit in Wirtschaft, Forschung und Politik.
Zum Abschluss, Herr Hermann: Was möchten Sie persönlich in Sachen Wasserstoffmobilität in Baden-Württemberg in den nächsten zwölf Monaten erreichen?
Mein wichtigstes Ziel ist, gemeinsam mit allen Akteuren den Weg für Wasserstoff‑Korridore für den Schwerlastverkehr zu ebnen. Bis dahin möchte ich alle notwendigen Formate und Partnerschaften etabliert haben, damit die Wirtschaft Planungssicherheit bekommt und in diesem langfristigen Thema Erfolg hat. 
Winfried „Winne“ Hermann (Grüne) studierte Deutsch, Politik und Sport in Tübingen. Er wurde 1998 erstmals in den Bundestag gewählt. Seit 2011 ist er Verkehrsminister in Baden-Württemberg – in allen drei Landesregierungen unter Winfried Kretschmann. Der heute 73jährige hat angekündigt, bei der Wahl 2026 nicht mehr zu kandidieren.